14. April 2008

Stille Nacht

Geneigter Leser! Ich bin immer wieder aufs Neue fasziniert, dass ich anscheinend schier magnetische Anziehungskräfte für gestrandete Existenzen und verschrobene Gestalten besitze, deren Ausmaß ich erst nach und nach begreifen lerne. Erstaunlicher Weise werden diese Kräfte, und ich verweise an dieser Stelle gern auf vorangegangene Berichte, vornehmlich in öffentlichen Verkehrsmitteln, bevor-zugt (haha!) in Verkehrsmitteln der Deutschen Bahn, freigesetzt. Wenn das so weiter geht, überlege ich wirklich, daraus in irgendeiner Art Profit zu schlagen, clevere Vorschläge dürfen gern an mich gerichtet werden.
Es ist schlicht und ergreifend wie folgt: Wenn ich in einen Zug steige, bin ich meist müde. Wenn ich müde bin, ist meine Fantasie das wachste Element in mir, sodass ich regelmäßig überlege, ob ich das gerade wirklich erlebe oder mir nur ziemlich plastisch und gekonnt einbilde. Jedoch: es passiert, und es passiert immer wieder, und es gibt anscheinend kein Mittel dagegen. Auch nach meiner letzten Zugfahrt kann ich wieder ein Beispiel anbringen:

Unglücklicher Weise sind Zugfahrpläne nicht immer topaktuell, und unglücklicher Weise traf mich diesmal der Zorn der Willkür. Anstatt nach Dresden durchzufahren, wie ich es beabsichtigte, kam ich in den unfreiwilligen Genuss, mir Bahnsteig zwei des Bahnhofes Freiberg für eine Stunde näher bekannt zu machen, als mir lieb war. Doch bevor ich eine Stunde frischer Bahnhofsluft ausgesetzt war, schloss ich erst noch Bekanntschaft mit zwielichtigen Gestalten. Und wo geht das besser als im Zug?
Bereits als ich einstieg und mich im Abteil niederließ, erblickte ich ihn. Er hatte lange, dunkle Haare, einen knielangen schwarzen Ledermantel an und einen ebenso schwarzen Rucksack bei sich, und seine einzige Tätigkeit bestand aus Starren. Als einzige Frau in diesem Abteil (schlechte Wahl, ich weiß) schien ich ein geeignetes Ziel zu sein, aber bittesehr, wenn ihm das die Fahrzeit verkürzt, stelle ich mich dazu selbstlos zur Verfügung. Ich selber hatte meine Zeitschrift, in die ich meinerseits starren konnte. Allerdings war der Starrer ja auch nicht allein, denn neben einem geschätzt 13jährigen Jungen saß noch ein gepäckloser junger Mann mit ziemlich großen, ziemlich dunklen Augen im Abteil, der selbige ebenfalls auf mich richtete. Ich geben zu, dass mein Unbehagen sich in diesem Moment durchaus steigerte, zumal ich mittlerweile davon ausging, seit meinem letzten Blick ein drittes Ohr, und zwar mitten im Gesicht, dazuerhalten zu haben, welcher Grund sonst sollte so offensives Starren rechtfertigen?

Aber Komissar Zufall ist ja in allem Unglück eiskalter Bahnhofshallen manchmal ein ganz freundlicher Helfer, und so war es mir fast gar nicht Unrecht, dass der dezent sächselnde Zugbegleiter den Endhalt dieses Zuges in Freiberg ankündigte. Verblüffte Gesichter aller Orten teilten mir mit, dass ich nicht die einzige Überraschte im Abteil war, sogar die beiden Intensivblickler starrten zur Abwechslung mal Löcher in die Luft anstatt in meine Jacke. Allerdings fassten sie sich schnell, und während der junge Mann mit den großen Augen mir beim Aussteigen freundlich zunickte, offenbarte der Langbemantelte etwas, dass mir durchaus zu denken gab: neben seinem verkniffenen Blick und dem speckigen Rucksack, den er in der Hand mit sich trug, umfasste seine andere linke Hand einen rosafarbenen Kinderregenschirm. Mit Blümchen.
Also lieber schnell in Freiberg raus, ab zum Abfahrtsplan und dort enttäuscht feststellen, dass das Abendessen eine Stunde länger auf mich warten muss und dass es auf Bahnsteig zwei keinen Kaffeeautomaten gibt.
Der Aufenthalt gestaltete sich ziemlich langweilig: Abgesehen von ziemlich sächsischen Telefonaten (null-eeens-siehm-zweee...) und einem einzigen vorbeifahrenden Zug gab es nichts, was die traute Zweisamkeit zwischen meiner Zeitschrift und mir hätte stören können. Die Stunde verging verhältnissmäßig schnell, und frohen Mutes und in Aussicht eines Essens betrat ich den Zug, ließ mich in meinem Abteil nieder - und bekam schnell eine andere Aussicht, und diese direkt vor meine Augen: Der Verkniffene mit Ledermantel und Schirmchen hatte sich wieder eingefunden, und leider hatte er auch mich wiedergefunden. Allerdings hatte er gleich noch eine Überraschung für mich parat: starrend, im idyllischen Licht der untergehenden Sonne sitzend, zog er aus seiner Manteltasche einen Gegenstand heraus, der auch für den Rest des Abteiles verwunderlich war: Das Innere einer Spieldose. Langsam und genüsslich begann er, an selbiger ein bisschen herumzubasteln, hier ein bisschen schrauben, da ein bisschen pusten, hier etwas schieben, da etwas drücken. Und natürlich versäumte er es nicht, ab und an mal an der Kurbel zu drehen, damit wir auch alle hörten, was sein Schmuckstück von sich gab: Stille Nacht. Dazu die Augen geradeaus, auf mich gerichtet. Ich gebe zu, ich hätte jetzt kein Problem mehr damit gehabt, den Jungen Mann mit den großen Augen im Abteil zu haben, denn die nun anwesenden älteren Damen wandten sich anderen Dingen zu, wohingegen der rosa Beschirmte das Interessanteste an mir gefunden zu haben schien: meine Füße. Genauer gesagt meine Socken, denn mitten zwischen Stiller Nacht und starren Blicken sprach er mich an: "Du hast ja grüne Socken an!". Was für ein Blitzmerker, wenn man bedenkt, dass er zur Gewinnung dieser Erkenntnis, Bahnhofswartezeit abgerechnet, eine halbe Stunde hatte. Trotzdem war ich viel zu verblüfft und, ja, doch durchaus etwas verängstigt, um darauf etwas zu antworten. Wenigstens veranlasste ihn das zu einer spontanen Änderung seines Handlungsschemas: er nahm seinen Rucksack, zog eine Flasche Bier heraus und öffnete sie geräuschvoll. Irritierender Weise trank er allerdings keinen Schluck daraus, sondern wandte sich viel lieber wieder meinen grünen Socken und der Stillen Nacht zu. Bis... ja, bis der letzte Halt vor Endhalt passiert war. Da nahm er plötzlich die Flasche und trank die mittlerweile durch sein Halten vermutlich ziemlich schal gewordene Plörre aus, auf ein Mal. Selten bin ich so gern aus einem Zug ausgestiegen, obwohl er auch das noch ein letztes Mal nutzte, um mich zu verblüffen: Er sagte "Auf Wiedersehen!" - mit Blick auf den Boden. Ich entnahm daraus, dass er sich von meinen Socken verabschiedete und sagte "Tschüss" - zu Spieluhr und rosa Schirm.